Demokratisches Sozialmanagement und Kollegiale Führung
Was haben Demokratie, Sozialmanagement und Kollegiale Führung miteinander zu tun? In diesem Beitrag wird das agile Organisations- und Führungsmodell Kollegiale Führung als Handlungskonzept für die Gestaltung von organisationalen Rahmenbedingungen für Teilhabe und Kohäsion interpretiert. Ein demokratisches Sozialmanagement trägt somit zur Verwirklichung dessen bei, worum es der Sozialen Arbeit geht.
Der Beitrag ist zuerst in der Zeitschrift Sozialwirtschaft (4/2022) erschienen.
Soziale Arbeit, die es sich zur Aufgabe macht, Teilhabe und Kohäsion (vgl. IFSW 2014) zu fördern, ist auf Rahmenbedingungen angewiesen, die diesen Auftrag durch Strukturen und Prozesse unterstützt. Da Soziale Arbeit als soziale personenbezogene Dienstleistung fast ausschließlich in Organisationen der Sozial- und Gesundheitswirtschaft geleistet wird, kommt dem Management hierbei eine kritische Bedeutung zu. Es stellt sich die Frage: Was für ein Sozialmanagement korrespondiert mit einer Sozialen Arbeit, die diesem Auftrag verpflichtet ist?
Demokratisches Sozialmanagement
Schon Mary Parker Follett (1868 – 1933; vgl. Staub-Bernasconi 2018:71–81), eine Pionierin des Sozial-Managements, entwickelt ausgehend von einer aufgeklärt liberalen Weltsicht ein Verständnis von Wirtschaft, Unternehmertum und Führung, das multirational genannt werden kann. Es umfasst u.a. die Gewinnerzielungsabsicht als auch die Potentialentfaltung der Menschen in Organisationen und wird von dem ethischen Ziel einer menschengerechten, sozialen Wirtschaft orientiert. Ein solches Wirtschaftssystem erkennt die politische Freiheit der Individuen an und schafft alltägliche Lern- und Erfahrungsräume der Demokratie als freiheitlicher Herrschaftsform in den Organisationen. Mary P. Follett entwickelt ein Selbstorganisationskonzept, das auf Partizipation, Selbststeuerung und Sinnstiftung basiert. Management wird als dienstleistungsbezogene Funktion der Organisation beschrieben. In diesem systemischen Managementverständnis geht es konkret um geteilte Macht statt positionsorientierter Führung. Mit anderen Worten: Das Sozial-Management hat die Funktion, demokratieförderliche Rahmenbedingungen zu schaffen, damit ein menschengerechtes Wirtschaften ermöglicht wird. Dieser liberale, partizipative Ansatz einer Wirtschafts- und Unternehmensdemokratie ist anschlussfähig an eine Soziale Arbeit, der es um Teilhabe und Kohäsion freier Bürger geht. Zumindest genießt ein demokratisches Sozialmanagement einen „freiheits- und legitimationstheoretischen Vorsprung“ (Höffe 2015:243) vor vertikal hierarchischen Führungsmodellen.
Die Wechselwirkung zwischen dem Sinn und Zweck Sozialer Arbeit, der politisch-öffentlichen Legitimation sozialer personenbezogener Dienstleistungsorganisationen und dem Bürgerstatus der Mitarbeitenden sowie der Nutzer*innen plausibilisiert die These, dass die soziale Dienstleistungsorganisation einen demokratischen Lernraum darstellt. In diesem Verständnis wird das Management zu einer demokratischen Institution in der Organisation. Und zugleich wird die Demokratie zum Mittel, um Teilhabe und Kohäsion effektiv zu ermöglichen, weil sich Organisationmitglieder als freie Bürger selbstbestimmt in die Organisationsgestaltung einbringen können und nicht als fremdbestimmt erleben (vgl. Geyer 2017).
Kollegiale Führung
Eine demokratiebasierte Selbstorganisation wird im Modell des kollegial geführten Unternehmens (vgl. Oestereich/Schroeder 2017 und 2020) operationalisiert. Operationalisierung meint: Es werden Strukturen, Prozesse und Methoden beschrieben, die eine freiheitliche Herrschaft bzw. eine kollegiale Hierarchie sicherstellen und damit eine andere Ordnung zur Verfügung stellen. Einige wesentliche Merkmale des kollegial geführten Unternehmens werden im Folgenden skizziert.
„Kollegiale Führung ist die auf viele Kollegen und Kolleginnen dynamisch und dezentral verteilte Führungsarbeit anstelle zentralisierter Führung durch einige exklusive Führungskräfte“ (Oestereich/Schröder 2017:VII). Die kollegiale Führung vernetzt die Notwendigkeit von Führungsarbeit mit der Idee der Begrenzung von Macht und achtet dabei auf Kenntnisse und Kompetenzen der Organisationsmitglieder. Jedes Organisationsmitglied kann einzelne Führungsaufgaben übernehmen, zurückgeben oder von einem Kreis entzogen bekommen. Die verteilte Führungsarbeit, die dezentral erfolgt, wird in entsprechenden Führungs-, Rollen- und Praktikergruppen koordiniert. Diese Kreise bilden thematische Verantwortungsbereiche (z.B. Personal, Strategie) und steuern sich ebenso selbstorganisiert wie die wertschöpfenden Teams in der Peripherie der Organisation.
Das neue Führungsparadigma wird anhand der Führungsrichtung sichtbar. In Abgrenzung vom Muster der vertikalen Hierarchie folgt die kollegiale Organisation einer Führung von außen nach innen, also vom Ort der direkten Wertschöpfung ins Zentrum. Die Kreise, die die Dienstleistungen erbringen, sind in der Organisation nicht mehr hierarchisch untergeordnet und mit geringem Machtpotential ausgestattet, sondern Ausgangspunkt der Führung und Ort der Entscheidung. Sie partizipieren über ein Repräsentationsmodell an der Klärung von übergeordneten Entscheidungsnotwendigkeiten.
Die Kreisorganisation ist eine andere Logik der Hierarchie, die die traditionellen Erwartungszusammenhänge stört und die Organisationsmitglieder in ihren Denk- und Verhaltensweisen irritiert. An die Stelle der vertikalen Hierarchie tritt in der verteilten Führungsarbeit nicht einfach eine Lücke, sondern eine laterale Hierarchie (vgl. Kühl 2017), die über Prozesse, Methoden und verantwortliche Personen, Vertrauen riskiert, Verständigung organisiert und Macht ausübt.
Auch die Entscheidungspraxis verändert sich radikal: Statt Konsens- oder Mehrheitsentscheidungen werden Entscheidungen mit dem geringsten Widerstand getroffen, Einwände integriert oder Einzelentscheide explizit legitimiert. Die soziokratischen Strukturierungs-, Entscheidungs- und Koordinationswerkzeuge stellen Methoden zur Verfügung, die einen niedrigschwelligen Zugang zu Mitentscheidung und Mitverantwortung ermöglichen.
Fazit
Das Modell des kollegial geführten Unternehmens versteht, wie auch Mary Parker Follett, Management als dienende Funktion, die von jeder Person in der Organisation dadurch wahrgenommen werden kann, dass einzelne Führungsaufgaben verteilt und verantwortlich erledigt werden, wenngleich die kollegiale Führung radikal auf Führungskräfte verzichtet.
Auch wenn nicht explizit von Organisationsbürgern die Rede ist, lässt sich die Verteilung von Macht und Verantwortung als Ausdruck einer freiheitlichen und legitimierten Herrschaft deuten, die von den Betroffenen ausgeht und vor Einzelnen und dem jeweiligen Kreis (Gruppe) zu rechtfertigen ist. Das dahinterstehende Selbstorganisationskonzept basiert auf Freiwilligkeit und fordert für die Ausübung Kenntnis, Kompetenz und Urteilsfähigkeit der handelnden Personen ein. Die Entscheidungsprozesse beruhen auf den Prinzipien der Mandatierung und Deliberation und orientieren sich an soziokratischen Methoden. So sollen die Risiken einer „Tyrannei der Mehrheit“ (John Stuart Mill) und „Dauerpolitisierung“ (Stefan Kühl) minimiert werden.
Dem Modell ist auch ein effizienzorientiertes Konzept von Selbstorganisation eigen, wodurch der Verdacht entsteht, die kollegiale Hierarchie instrumentalisiere die politische Freiheit des Einzelnen, indem es den freien Organisationsbürger dadurch ausbeutet, dass dieser sich freiwillig selbst ausbeutet. Es ist nicht auszuschließen, dass eine neoliberale Instrumentalisierung von kollegialer Führung praktiziert wird. Ein multirationaler Ansatz integriert stattdessen die Effizienzorientierung in die Unternehmensdemokratie. So kann das kollegiale Organisations- und Führungsmodell als Handlungskonzept eines demokratischen Sozialmanagements verstanden werden und einen Beitrag zur effektiven und effizienten Gestaltung von Teilhabe und Kohäsion leisten.
Literatur
Geyer, Christian (2017): Arbeitsbeziehungen in der Diakonie. Demokratisches Bürgerethos als christliche Orientierung einer hybriden Sozialpartnerschaft. Baden-Baden.
Höffe, Otfried (2015): Kritik der Freiheit. Das Grundproblem der Moderne. München.
International Federation of Social Workers IFSW (2014): Global Definition of Social Work. https://www.ifsw.org/global-definition-of-social-work/.
Kühl, Stefan (2017): Laterales Führen. Eine kurze organisationstheoretisch informierte Handreichung. Wiesbaden.
Oestereich, Bernd/Schröder, Claudia (2017): Das kollegial geführte Unternehmen. Ideen und Praktiken für die agile Organisation von morgen. München.
Dies. (2020): Agile Organisationsentwicklung. Handbuch zum Aufbau anpassungsfähiger Organisationen. München.
Staub-Bernasconi, Silvia (22018): Soziale Arbeit als Handlungswissenschaft. Soziale Arbeit auf dem Weg zu kritischer Professionalität. Opladen/Toronto.