Karfreitag und der Durst nach Leben
Predigt zu Johannes 19, 16-30
Karfreitag - ein merkwürdiger Feiertag. Ein Feiertag, an dem es nichts zu feiern gibt. Das Evangelium dieses Tages steht bei Johannes im 19. Kapitel, Verse 16 bis 30. Die Predigt greift das Kreuzeswort "Mich dürstet" auf.
Die Taxis und Motorroller hupen. Der Lärm Kalkuttas, der von der Straße hereindringt, ist schon um 6 Uhr morgens laut. Marina Moosburger sitzt im Schneidersitz auf dem Boden der Kapelle im Ordenshaus von Mutter Teresa. Die Religionspädagogin aus Deutschland atmet jenen eigentümlichen Duft ein, der sich aus Abgasen, Reinigungsmitteln, Kerzen und den Aromen der Garküchen mischt. Um sie herum versammeln sich die Ordensschwestern in ihren weißen Saris mit den blauen Streifen sowie Freiwillige aus aller Welt. Die Schwestern singen, beten und lesen aus der Bibel vor. Marinas Blick pendelt zwischen dem wuchtigen Kreuz an der Stirnseite des Raumes und den weit geöffneten Fenstern, die das pralle Leben Kalkuttas hereinströmen lassen.
Nach der Messe wartet das karge Frühstück: Toastbrot, Tee und eine Banane. Gestärkt durch diese Mahlzeit geht es hinaus in die Stadt. Die große Gruppe teilt sich auf. Marina fährt mit dem Bus zum Nirmal Hriday, einer Herberge für Bedürftige und Sterbende. Als sie das Gebäude betritt, begegnet sie Männern und Frauen, die alle gleich gekleidet sind, mit kurz geschorenen Haaren. Doch hinter dieser Uniform der Armut offenbaren sich Gesichter mit eigener Biographie. Viel Zeit bleibt nicht. Die Arbeit wartet. Ein endloser Berg Wäsche, der mit vollem Körpereinsatz bewältigt werden muss.
„Es gibt hier keine Waschmaschinen“, erklärt Andi Wimmer, ein Freiwilliger, der schon viele Jahre im Hospiz mitarbeitet. „Nur reiche Haushalte können sich solche Geräte leisten. Mutter Teresa hat immer gesagt: Wir sind arm und der Bedürfnislosigkeit verpflichtet. Deshalb wird alles mit bloßen Händen gereinigt.“
Nach dem letzten gewaschenen Hemd hängt Marina ihre Schürze an den Haken und betritt einen großen Saal. Hier sitzen Frauen auf Plastikstühlen oder Holzbänken. Die Wände sind weiß gestrichen, der Fußboden gefliest. Die Fenster stehen offen und die Ventilatoren unter der Decke surren. Der Raum ist durchdrungen von Stimmen, Lauten, Atemgeräuschen, dem Straßenlärm. Kaum hat Marina den Raum betreten, packt sie plötzlich eine Hand am Unterarm und zieht sie runter. Sie beugt sich zu der alten Frau und lächelt. Ein Lächeln kommt zurück. Und dann streckt die Frau der Helferin aus Deutschland ihre Füße entgegen. Die Freiwillige setzt sich auf den Boden, nimmt die Füße in ihren Schoß und massiert sie. Sanft berühren die Hände den Fuß. Nach und nach fasst sie auch etwas fester zu. Die Frau atmet ein und aus, ein und aus. Beide lächeln einander an. Später verteilt Marina Essen und Trinken oder unterstützt beim Essen. Sie begleitet Toilettengänge und hört zu, was die Menschen zu erzählen haben, ohne auch nur ein Wort zu verstehen.
Das Sterbehaus Nirmal Hriday bezeichnete Mutter Teresa mehrfach als ihre „erste und größte Liebe“. Sie ließ das Asyl erbauen, nachdem sie versucht hatte, einen schwer kranken Obdachlosen in einem Krankenhaus der Stadt unterzubringen. Weil sie die Aufnahmegebühr nicht zahlen konnte, wies man sie ab. Der Mann starb vor den Pforten des Krankenhauses in ihren Armen. Ein Schlüsselerlebnis für Mutter Teresa, das ihr Wirken prägen sollte.
Die Missionarinnen der Nächstenliebe sind mittlerweile in 137 Ländern aktiv und stehen den Ärmsten der Armen, den Kranken und den Sterbenden bei. Und das ist auch bitter nötig. Weltweit leiden 735 Millionen Menschen unter Hunger – nahezu jeder 10. Erdenbürger. 13,6 Mio. Kinder sind lebensbedrohlich mangelernährt. Durch Krieg und Gewalt wird das Elend noch verschärft: In Gaza liegt das Gesundheitssystem in Trümmern, im Sudan ist die medizinische Versorgung längst zusammengebrochen. Dort drängen sich oft drei bis vier Patienten auf einem Krankenhausbett. Täglich sterben Menschen an behandelbaren Krankheiten, allein weil es an Medikamenten und medizinischer Infrastruktur fehlt.
Andere verlieren ihr Leben durch Raketenangriffe, wie an Palmsonntag in Sumy. Die Bilder aus der Stadt im Nordosten der Ukraine zeigen leblose Körper auf den Straßen und schwere Verwüstungen. Menschen wurden in ihren Autos, in öffentlichen Verkehrsmitteln und in ihren Häusern durch Streumunition verletzt oder getötet. Die traurige Bilanz: über 100 Verletzte und 34 Tote. Zahlen, die viel zu wenig vom Leid der Menschen erzählen.
Das Elend in der Welt bleibt für die meisten weit weg; zumindest räumlich. Und so gelingt es uns Europäern, das Leiden der Hungernden und der Kriegsopfer emotional auf Abstand zu halten. Doch ihr Leid schreit zum Himmel. Und gleichzeitig wächst unsere Verzweiflung über den Zustand dieser Welt, unsere Angst vor Krieg und Wohlstandsverlust oder vor einer schleichenden Erschütterung der demokratischen Werte. Diejenigen unter uns, die sich um nahestehende Menschen oder die eigene Gesundheit sorgen, können ihre Hilflosigkeit nicht verdrängen. Die persönlichen Sorgen und Ängste schreien ebenso zum Himmel.
Und obwohl das globale und persönliche Leid zum Himmel schreit, bleibt der Himmel stumm. Das ist die Erfahrung von Karfreitag. Gott schweigt am Kreuz von Golgatha, und er bleibt stumm in Sumy, in Kalkutta und Rafah. Gott schweigt am Sterbebett der jungen Mutter und angesichts der Diagnose, die ein Leben aus der Bahn wirft. Allzu oft versucht sich die fromme Zunge des Glaubens an einer schnellen Erklärung: Gott höre und helfe anders als erwartet, heißt es dann. Auf verborgene Weise nämlich. Der Schatten des Zweifels soll mit dieser Standardantwort wegerklärt werden. Ein Vertrauen in Gott, das nicht blind ist, wird durch das Schweigen Gottes zutiefst irritiert. Wer sehenden Auges glaubt, stellt unweigerlich die Frage des Unglaubens: Wo bist du, Gott? - Eine Frage, die ohne befriedigende Antwort bleibt.
Das ist die Erfahrung von Karfreitag. Karfreitag ist ein Feiertag, an dem es nichts zu feiern gibt. Ostern liegt weiter entfernt, als die wenigen Kalendertage vermuten lassen. Karfreitag ist ein Tag der Trauer über die bittere Realität unserer Welt und unseres zerbrechlichen Lebens. Es ist ein Tag, an dem bisherige Gewissheiten zersplittern wie Holz, an dem Hilflosigkeit und Verzweiflung Raum haben. Der Karfreitag erklärt nichts und tröstet über nichts hinweg. Statt oberflächlicher Welterklärung bekräftigt er die „Würde der Untröstlichkeit“ (Fulbert Steffensky). Diese Würde besteht darin, das Elend und den Schmerz, den Hunger und den Tod wahrzunehmen – auszuhalten – für andere da zu sein. Ohne vorschnellen Trost!
Am späten Nachmittag kehrt Marina zurück in das Mutterhaus der Schwestern der Nächstenliebe. Sie kommt an dem schlichten Grabstein von Mutter Teresa vorbei, geht die Treppe hinauf und lässt sich wie am Morgen auf den Boden der Kapelle nieder. Zu einer anderen Freiwilligen sagt sie: „Was ich nie vergessen werde, sind die Augen der Menschen, die mich anschauten. In ihnen sah ich Freude, Zärtlichkeit, Schmerzen und Zorn. Und ich fragte mich, wo bist du, Gott?“ Die drückende Schwüle des Tages ist durch die Fenster eingeströmt. Die Kapelle füllt sich. Nach und nach kommen die Schwestern und Freiwilligen zur Andacht. Es wird gesungen und gebetet. Still ragt hinter dem Altar ein raumhohes Kruzifix auf. Jesus, der Sohn Gottes, ist tot. Sein Kopf ist zur rechten Seite nach unten geneigt. Zugleich trägt der tote Jesus von Nazareth einen Heiligenschein, und das Kruzifix ist von einem hellen Lichtband umrandet. Seitlich vom Kreuz steht in großen, schwarzen Buchstaben: „I thirst!“ „Mich dürstet!“
Dieses Wort von Jesus am Kreuz, kurz bevor er starb, steht in jeder Kapelle der Ordensgemeinschaft weltweit. Echter Durst ist eine körperliche Qual. Und der zu Essig gewordene Wein, den man dem Sterbenden reichte, war das herbe Getränk der einfachen Leute. Kein Labsal, aber immerhin linderte es das Leid. Den Durst stillte es nicht. Jesu Durst nach Leben und Frieden ist auch am Kreuz nicht erloschen. Jesu Durst nach Leben bleibt ein Protest gegen jeden frommen Erklärungsversuch, der den gewaltsamen Tod gut heißt. Kein Tod ist gut, der Menschen aufgezwungen wird, auch nicht der Tod des Gottessohnes am Kreuz. Die Todesstrafe ist und bleibt ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Gut ist allein die Leidenschaft, mit der Jesus für das Reich Gottes eingetreten ist. Ein Reich, indem jede Sünderin und jeder Sünder willkommen ist. Gut ist auch die Leidenschaft, mit der Gott für Jesus eintritt. Der Jesus des Johannesevangeliums spürt, dass Gott bis zum bitteren Ende zu ihm hält und in ihm bleibt. „Es ist vollbracht!“, ruft Jesus am Kreuz. Und gleichzeitig bleibt da dieser Durst: Ein Durst nach Leben und Frieden, ein Durst nach Gott, hier und jetzt. Wer diesen Durst nach Gott in sich trägt, der wird von Jesus seliggepriesen. Hungern und dürsten nach Gerechtigkeit bedeutet: an Gott festhalten, trotz allem und leidenschaftlich für Mitmenschlichkeit eintreten, an allen Orten.
In der Kapelle erklingen die Gesänge der Schwestern. Das Hupen der Autos, die Gerüche der Straßenküchen, der Schweiß der Menschen haben sich mit dem Atem der Sängerinnen und Sänger zu einer eigentümlichen Atmosphäre verbunden. In dieser Gemeinschaft steht Marina, dankt für einen Tag voller Begegnungen und bittet darum, dass der Durst der Menschen nach Leben, Würde und Frieden gestillt werde.